Das Bild von Europa, welches das öffentliche Bewußtsein des 17. und 18. Jahrhunderts bis in die Zeit der Französischen Revolution prägte, ist vielfach von einem Werk bestimmt, das erstmals 1614 erschienen war: der lateinisch geschriebenen Icon animorum des schottischen Autors John Barclay (1582-1621), einem Panorama der europäischen Nationen, ihrer geopolitischen Situierung und ihrer nationalen und kulturellen Eigenheiten. Sofort und dann immer wieder in mehrere Sprachen übersetzt (z. B. französisch: Le Tableau des esprits, 1625; englisch: The Mirror of Minds, 1631; deutsch erstmals 1649), diente es in Deutschland seit 1733 als Lehrbuch an Schulen, und die Wertschätzung des Werkes demonstriert noch 1784 eine neue deutsche Übersetzung unter dem Titel Johann Barclai Seelengemählde. Der Herausgeber dieser Ausgabe betont in seinem Vorbericht die ungebrochene Aktualität des Textes und spricht davon, »daß man alle diese Seelengemählde für Abdrücke der jetzigen Völkergeneration halten; daß man den Mann unbedingt hochschätzen muß, der so nach der Natur arbeitete«. Auch der Überblick, den der junge Herder in seinem auf der Seereise von Riga nach Nantes verfaßten Reisejournal von 1769 über die Nationen Europas und den Zustand ihrer unterschiedlichen Kulturen lieferte, ist von diesem Buch geprägt. Europa existiert als Ensemble unterschiedlich charakterisierter Nationen, deren Kulturen aufgrund unterschiedlicher geographischer Gegebenheiten und Traditionen im Wettstreit miteinander stehen. Um so überraschender, daß sich im 1791 erschienenen Schlußband von Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit die Prognose findet: »alles neigt sich in Europa zur allmäligen Auslöschung der Nationalcharaktere«, und die Zukunft des Kontinents liege in der Weiterentwicklung des »Allgemeingeistes« seiner so unterschiedlichen Völker (Ideen, Buch XVI/6). Europa habe eigentlich nach dem Ende des römischen Reichs mit Beginn der Völkerwanderung »die Anlage zu einem großen Nationen-Verein« geboten; die Fehlentwicklungen der weltlichen und geistigen Feudalherrschaft habe dies verhindert, aber nun sei der geschichtliche Moment, um diese Anlage zu realisieren.
Dieser völlig neue Blick auf Europa ist im Licht zweier Begegnungen Herders mit politischen Persönlichkeiten zu betrachten, die während seiner Italienreise stattgefunden haben: einmal mit führenden Gestalten der politischen Reformbewegung Neapels im Januar/Februar 1789, vornehmlich mit dem Juristen Francesco Mario Pagano; zum andern auf das Zusammentreffen mit dem Großherzog der Toskana Pietro Leopoldo am 29. Mai 1789 in Florenz, der bereits im Februar 1790 als Leopold II. Nachfolger seines Bruders Kaiser Josephs II. werden sollte, und gerade darüber besitzen wir ein ausführliches Dokument von Herders Hand. Drei Gesichtspunkte von Belang ergeben sich aus diesen Quellen, um diesen »Allgemeingeist« Europas bei Herder zu konturieren: Ein neues Europa wäre einmal das Resultat eines Friedensprojekts, das auf der Beendigung der Territorialkriege beruhen sollte, welche die Monarchen des Ancien Regime seit dem Spanischen Erbfolgekrieg (1701/14) das ganze 18. Jahrhundert hindurch geführt hatten. Der zweite Gesichtspunkt, das mit diesem Projekt verbunden ist, ist jedoch die definitive Bindung der bis dahin »absoluten« Herrscher an Verfassungen, die jede Willkür aus dem politischen Handeln verbannen würde; dies betrifft besonders die Militärpolitik, die ein Gedeihen der Staatswesen verhindert. Das Projekt einer Verfassung ist nicht nur das Anliegen der Constituante in Frankreich, sondern auch von Leopold II., das wegen seiner kurzen Regierungszeit – er starb bereits am 1. März 1792 – und im Horizont der Zuspitzung des Konflikts mit dem revolutionären Frankreich ab August 1791 nicht realisiert wurde. Die Reform der Außenpolitik, ihre Ausrichtung an einer friedlichen Bündnispolitik und die Etablierung eines verfassungsmäßigen Zustandes als Grundlage der Innen-, Wirtschafts- und Kulturpolitik des Staates läßt – und dies ist der dritte Gesichtspunkt – in allen europäischen Staaten einheitlich einen neuen Stand entstehen, der die alten Führungsschichten Adel und Klerus ablösen wird; Herder spricht, in bewußter Anlehnung an die revolutionäre Parole von einem Tiers État, der sich bei ihm als Stand der Wissenschaft, der nützlichen Tätigkeit, des wetteifernden Kunstfleißes konstituiert (Ideen XX/6). Die gerechte Besitzverteilung, die Sicherheit der Mitglieder der Gemeinschaft und ihre Gleichheit ist in allen europäischen Staaten die Voraussetzung eines neuen friedlichen Europa.
Herder teilt diese Ideale mit einer Reihe anderer bedeutender politischer Philosophen; neben dem genannten Francesco Mario Pagano, ist besonders auf zwei Autoren in Frankreich zu verweisen: selbstverständlich auf den Marquis de Condorcet mit seiner Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain (1794), mehr noch auf die geschichtsphilosophische Schrift Les Ruines, ou Méditations sur les révolutions des empires, die Constantin-François de Volney (1757-1820) am Übergang der Revolution von der Constituante zur Législative 1791 veröffentlichte. Dort entwirft Volney – zeitgleich mit Herders Schlußband der Ideen – in einem Gespräch zwischen dem Genius der Menschheit mit dem Autor in den Ruinen von Palmyra ein Zukunftsbild Europas, das der Vision Herders entspricht. Noch am 29. August 1849 wird Victor Hugo einen Friedenskongreß in Paris mit einem Plädoyer für ein geeintes friedliches Europa eröffnen, das die Ideale seiner Vorgänger im späten 18. Jahrhundert wieder aufgreift: »Es wird ein Tag kommen, an dem sich Frankreich, und Ihr alle, die Vertreter von Rußland, Italien, England und Deutschland, der Nationen dieses Erdteils, sich aufs engste in einer übergeordneten Einheit zusammenschließen werden …«.
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